Coach aus eigener Betroffenheit

Kann das funktionieren?

Immer wieder höre und lese ich, dass jemand, der Ess-Störungen hat, nach erfolgter Therapie dann Ernährungsberater wird. Die mit den heftigsten psychischen Störungen werden Psychologen, und wer von einer schweren Krankheit durch naturheilkundliche Methoden geheilt wurde, wird selbst Heilpraktiker. Und so weiter, und so fort.

Dahinter steht oft die unausgesprochene Annahme, dass so jemand ja nicht wirklich helfen kann, weil er ja „nur“ die eigenen Defizite in der Beziehung zu seinen Kunden aufarbeitet.

Nun will ich nicht leugnen, dass mir solche Beispiele unreflektierter Besserwisserei auch schon untergekommen sind. Aber spricht das per se dagegen, dass jemand aus der Erfahrung heraus, seine Themen bewältigen zu können, selbst tätig wird, auch andere dabei zu unterstützen?

Dann könnte ich ehrlich gesagt einpacken. Denn natürlich bin ich genau deshalb Positionierungs- und Potenzial-Coach geworden, weil ich in der Tat sehr lange nach meinem Weg gesucht habe. Und weil es mir lange Zeit richtig, richtig schwer fiel – und teilweise noch immer schwer fällt – mich zu fokussieren und auf ein Thema zu konzentrieren.

Macht mich das zu einem schlechten Coach? Ich glaube, wenn es nur dabei bliebe zu erkennen, dass man da ein Problem hat und ein paar Methoden kennt, wie man damit produktiv umgehen kann – dann wäre das in der Tat zu wenig. Als Coach mit hohem Anspruch an mich und meine Arbeit bin ich ständig gefordert, mein Handeln zu hinterfragen, mir bewusst zu sein, dass auch ich blinde Flecken habe und mir daher immer wieder professionelles Feedback zu holen. Ich habe mich außerdem dazu verpflichtet, mich weiter zu bilden, um mein Reflexionsniveau auf allen Ebenen auszubauen. Mich als Spiegel für das Gegenüber anzubieten, aber mir gleichermaßen bewusst sein, dass der andere auch mein Spiegel ist.

Aus der Erfahrung eigenen Leids heraus Coach oder Berater zu werden, ist durchaus eine gute Startposition. Wer sonst könnte Betroffene so gut verstehen und sich in ihre Situation einfühlen? Meine Klienten fühlen sich regelmäßig total erleichtert, wenn ich ihnen zu verstehen gebe, dass ich wirklich weiß, wie es sich anfühlt da, wo sie gerade sind.

Aber mitfühlen alleine reicht eben nicht, wenn ich es mit dem Coaching-Auftrag ernst meine. Mich mit dem Leid des anderen zu identifizieren, kann sogar höchst verhängnisvoll sein. Deshalb ist die eigene Erfahrung zwar eine gute Basis für eine Beratungstätigkeit, aber ganz sicher nicht ausreichend, um gute Arbeit zu leisten.

Leider gibt es die schwarzen Schafe, die ausschließlich aus der eigenen Betroffenheit heraus handeln und ihr Handeln nicht oder zu wenig reflektieren. Schade finde ich es allerdings, wenn alle, die durch eigene Erfahrungen motiviert wurden, anderen bei ähnlichen Themen beizustehen, deswegen disqualifiziert werden. Da wünsche ich mir manchmal eine etwas differenziertere Herangehensweise.

Wie siehst du das? Bist du vielleicht selbst schon Beratern begegnet, deren einzige Qualifikation ihre eigene Erfahrung war? Oder war es im Gegenteil für dich ganz wichtig, dass jemand deine Situation aus eigener Erfahrung nachvollziehen konnte?

5 Kommentare zu „Coach aus eigener Betroffenheit“

  1. Grob zu verallgemeinern, ist selbstverständlich großer Unfug. Sich aus einer langen Lebenserfahrung so viel Wissen anzueignen, dass man dieses bei Bedarf und Nachfrage teilen kann, ist völlig legitim. Wie viele Menschen machen aus genau diesem Grund ein lang und intensiv gelebtes Hobby zu ihrem Beruf?

    Hier geht es nur wieder darum, dass man angeblich aus einer schlechten Erfahrung bloß nichts Positives gewinnen darf. Das ist natürlich Schwachsinn, wir wissen schon aus Kindheitstagen: was weh tut, hält im Wissen länger vor. Natürlich ist dieses Vorurteil wieder einmal typisch deutsch und geht in die Richtung der Vorurteile, die auch Selbstständige und Freiberufler mit sich tragen müssen à la „einmal Pleite, immer Pleite”. In den USA gilt es dagegen z. B. als gesund drei Pleiten hingelegt zu haben, das ist dann der Moment, in dem man anfängt an das Können des Bewerbers/Coaches etc. zu glauben.

    Selbstverständlich gibt es schwarze Schafe, die dann ihren Beruf für sich als „Therapieform” missbrauchen. Aber es gilt zum Glück freie Coach-Wahl. Da halte ich es pragmatisch, ich muss einem erwachsenen Menschen zugestehen, sich den Coach zu erwählen, der für ihn zu dieser Zeit vermutlich der Richtige ist.

  2. Hallo,
    aus eigener Erfahrung als Kunde kann ich nur sagen, wie wichtig es ist, dass ein Berater auch aus eigener Erkenntnis weiß, worüber er/sie spricht. In bestimmten Situationen – gerade Ernährungsberatung – möchte ich keinen Berater, der das Problem nur von Hörensagen kennt. Dann hat man einen spindeldürren, austrainierten Sportlehrer, der mit der (durchaus richtigen) Aussage daherkommt, dass halt unter dem Strich mehr Energie verbraucht werden muss als zugeführt wird.

    Andererseits (1) kann die eigene Erfahrung nur ein Baustein sein, der eine gute Beratung ermöglicht. Vertieftes Fachwissen, Methodenwissen, didaktische Fähigkeiten, ein Schuss Empathie etc. kommen dann noch dazu (deswegen betrachet ich z.B. die Ausbildung zum IHK-zertifizierten IHK-Ernährungsberater bei den „Gewichtsbeobachtern“ durchaus mit einigem Argwohn).

    Andrerseits (2) wäre es schlimm, wenn in jedem Thema der Berater die Erfahrung tatsächlich selbst gemacht haben müsste…

    Also: es schadet nicht, macht g laubwürdiger, kann aber nicht alles sein.

  3. Der Anlass für diesen Artikel war, dass ich mich über diese gern gepflegte Verallgemeinerung geärgert habe. Und dann fragte ich mich, wieso eigentlich, denn ich weiß ja, was ich kann und wie ich an meine Arbeit herangehe. Das Ergebnis ist dieser Artikel, der mir geholfen hat, mich zu sortieren zu diesem Thema. 😉 Und klar, jedem der Coach, der zu ihm passt … so oder so.

  4. Eigentlich wollte ich vor meiner keine anderen Antworten lesen – jetzt habe ich es doch getan. Und unterschreibe bei Andreas: In bestimmten Situationen mag ich lieber einen Ernährungsberater oder Personal Trainer, der auch mal selbst mit meinen Problemen zu kämpfen hatte und der mich mit eigenen Erfahrungen motivieren kann.

    Verloren hat der/die aber auch, wenn ergänzend nur Halbwissen (oder schlimmstenfalls Falschwissen) vermittelt wird.

    Was für mich einen guten Coach ausmacht: Sympathie, Empathie und Know-how. Ob die Reihenfolge zufällig gewählt ist? Darüber zerbreche ich mir selbst gerade den Kopf … Sympathie ist für mich auf jeden Fall wichtig, denn bei einer Coaching-Arbeit möchte ich ja ich selbst sein können und dürfen – dafür muss mir mein Coach aber wirklich sympathisch sein. Und ja, empathisch auch. Denn selbst wenn er nicht auf eigene Erfahrungen zurückgreifen kann, sollte er sich wenigstens vorstellen können, wie ich denke und fühle, welche „Dinge“ mir wichtig sind. Bei allem: Ohne Know-how (das, was Andreas beschrieben hat) geht es gar nicht.

    Momentanes Fazit für mich: Eigene Erfahrungen sind manchmal hilfreich, müssen aber nicht sein.

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